Häufig wird unter dem Begriff „Lesepate“ jemand verstanden, der Kindern etwas vorliest. Eine solche Art von Leseförderung wird von etlichen Institutionen betrieben, z.B. von der Stiftung Lesen, der Bertelsmann Stiftung, dem Börsenverein des Deutschen Buchhandels, der Arbeitsgemeinschaft Jugendliteratur usw. Diesen Institutionen geht es darum, den Kindern und Jugendlichen das Erlebnis des Lesens zu vermitteln.
So löblich und begrüßenswert diese Bemühungen sind, sie gehen an den eigentlichen Adressaten vorbei: den Schüler*innen, denen das Lesen schwer fällt. Der Grund dafür liegt in der Konzeption, mit der Neuleser*innen gewonnen werden sollen. Die Leseförderung wird weniger von den Fähigkeiten der Schüler*innen als von ihrer Motivation her begriffen. Dementsprechend legt man den Schwerpunkt der Maßnahmen nicht auf die Verbesserung der Lesefertigkeit, sondern das Lesen soll als ein Mittel zur Kommunikation erfahrbar gemacht werden. Lesen und Schreiben eignen sich Kinder aus dieser Perspektive durch eine persönliche Auseinandersetzung mit der Schriftsprache an. Wenn Schüler*innen nicht zu Büchern greifen, liegt das daran, dass ihnen einschlägige Erfahrungen fehlen. Will man sie zum Lesen bringen, so muss man sie neugierig auf Texte machen, zu denen sie einen individuellen Bezug aufbauen können.
Dass es Schüler*innen gibt, die nicht lesen, weil sie Bücher für langweilig halten, ist unbestreitbar. Insofern sind Veranstaltungen zur Anregung der Lesemotivation durchaus angemessen und hilfreich. Wie aber verhält es sich mit Nicht-Lesern, deren Lesefertigkeit nur unvollkommen ausgebildet ist? Auch diese Kinder und Jugendlichen sollen über die Inhalte von Büchern angesprochen werden. Macht man ihnen – so die Annahme – Lektüreangebote, die ihrer Interessens- und Bedürfnislage entsprechen, so werden sie die zum Entziffern der Texte erforderliche Mühe und Anstrengung auf sich nehmen.
Diese an sich sehr schöne Idee erweist sich in der Realität jedoch als zu optimistisch. Der Mangel an Lektüre geht bei leseschwachen Kindern und Jugendlichen nicht primär auf eine zu geringe Motivation zurück, sondern auf das Unvermögen, flüssig lesen zu können. Durch das ständige Scheitern wird das Interesse an Büchern immer wieder untergraben. Um nicht fortwährend mit ihrer Beeinträchtigung konfrontiert zu werden, versuchen die Kinder alles zu vermeiden, was auch nur entfernt mit Lesen zu tun hat. Dadurch fehlt es ihnen an der Übung, die notwendig ist, um ein kompetenter Leser zu werden. Man kann diesen Sachverhalt auch so ausdrücken: Die Schüler lesen nicht, weil es ihnen schwer fällt und es fällt ihnen schwer, weil sie nicht lesen.
Dementsprechend ist es nicht verwunderlich, dass ca. 60 Prozent der leseschwachen Achtklässler in einer Befragung (vgl. Klicpera & Gasteiger-Klicpera, 1993) angaben, Bücher seien oft zu schwierig geschrieben und das Lesen sei ihnen auf die Dauer zu anstrengend. Macht man diese Schüler auf Texte neugierig und greifen sie dann tatsächlich zu einem Buch, so ist der Misserfolg vorprogrammiert. Nach kurzer Zeit geben sie das ganze Unterfangen als zu mühevoll und als aussichtslos auf.
Ein Lesepatenprojekt zielt primär auf die Verbesserung der Lesefähigkeit. Das Lesepatenprojekt ist so organisiert, dass die Lesepaten einmal in der Woche, zum Teil auch zweimal in der Woche, für ca. zwei Stunden mit Schüler*innen lesen. Im Wesentlichen wird während der Förderzeit das Leseverstehen eingeübt. Hierzu werden altersgemäße Texte und aktuelle Zeitungs- und Zeitschriftenbeiträge eingesetzt. Nach einer Lesephase erfolgen Fragen und Gespräche zum Text, die das Leseverstehen trainieren sollen.
Die Förderung findet während des Unterrichts statt, sodass die geförderten Schüler*innen nicht das Gefühl haben müssen, zusätzlich und mehr als andere üben zu müssen. Die Schüler*innen verlassen dann für 20 Minuten den Unterricht und werden allein oder zu zweit gefördert. Viele Schüler *innen empfinden es als Privileg, von einer einzelnen Person betreut zu werden, und den meisten macht es viel Spaß. Nur sehr selten werden Schüler*innen von der Förderung ausgeschlossen, weil sie es über einen längeren Zeitraum an Disziplin vermissen lassen.
An der PRIMUS-Schule sind in der Regel 2-4 Lesepaten wöchentlich tätig.